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Projektskizze, Alessandro Barberi:

Nietzsche - Freud - Saussure. Transformationen des Historischen um 1900

Die "Wiederkehr der Sprache" (Foucault) in Nietzsches Philosophie, Freuds Psychoanalyse und Saussures Strukturlinguistik leitet in der Abkehr vom Historismus verschiedene Transformationen ein, die auf unterschiedlichen Niveaus das Historische betreffen. Unabhängig von Ideen- und Sozialgeschichte soll anhand der genannten Autoren gezeigt werden, wie im Diskurs-, Wissens- und Medienverbund um 1900 human- und lebenswissenschaftliche Konzepte die exemplarisch gewählten Textsammlungen durchlaufen. Letztere sind dabei von medialen Infrastrukturen genauso abhängig, wie sie diese produzieren.

Soziologie, Psychologie und Anthropologie wurden spätestens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und nicht zuletzt durch Nietzsches Philosophie, Freuds Psychoanalyse und Saussures Strukturlinguistik von einem "Außen Sprache" (F. Kittler) durchkreuzt und damit in ihrer epistemischen Kohärenz bedroht. Mit dem "Menschen" und der "Sprache" stehen sich die Objekte dieser mächtigen Wissensformen diametral entgegen. Ein Umstand, der in der methodologischen Auseinandersetzung mit Historischer Epistemologie, Diskursanalyse oder Dekonstruktion und - allgemeiner noch - in den Debatten der Medienwissenschaften betont und empirisch nachgewiesen wurde. Sei es, dass George Canguilhem in Anlehnung an Nietzsche den argumentativen Akzent auf die erfahrungskonstitutive Funktion verschiedener Begriffe in der Wissenschaftsgeschichte legte; sei es, dass Michel Foucaults Archäologie neben Lévi-Strauss Ethnologie auch Lacans Psychoanalyse als sprachtheoretisch gewendete "Gegenwissenschaft" aufnahm; oder sei es, dass Jacques Derrida ohne Saussures Zeichendefinition die differenziellen Effekte der Schriftgeschichte nicht hätte konstruieren können.

Weniger oft fand dabei der Umstand Erwähnung, dass diese Transformation des Sprachlichen auch hinsichtlich der "klassischen" Historiographie des 19. Jahrhunderts zu gravierenden Effekten führte: denn erstens wird die im "Jahrhundert der Geschichte" so geläufige Begründungs- und Fundierungsfunktion in Frage gestellt, die das Historische für andere Wissensformen übernahm. Zweitens setzt mit dieser Umstellung auch die reflexive Befragung und positive Beschreibung des historischen Diskurses in seiner eigenen Dimension ein. Drittens führt diese Stabilisierung des Sprachlichen aber auch zu Umstrukturierungen der historischen Analyse und Modellbildung selbst. Und so können Nietzsches Interesse an der Genealogie, Freuds Rekurs auf die Archäologie und Saussures zeitlich punktuelle Analyse von Sprache als Kritiken an der welthistorischen Weite des Historismus und damit auch als Permutation der Möglichkeiten von Historiographie gelesen werden. Diese Umstellung erschüttert dabei althergebrachte positivistische Objektivitätsansprüche und ein abbildtheoretisches oder repräsentationslogisches Konzept der wissenschaftlichen Wahrheit, wenn Nietzsche letztere außermoralisch mit der Lüge verknüpft, Freud betont, dass bewusste Vorstellungen im Unbewussten ihr Reales finden und Saussure die Konventionalität des Zeichens hervorkehrt. Umstände, die im Rahmen der hier vorgestellten Dissertation eine markante Problematisierungslinie darstellen.

Historisch, epistemologisch und diskursanalytisch ist nun diese Wiederkehr der Sprache samt der durch sie effektuierten Transformation des Historischen mehrfach mit den wissensgeschichtlichen Diskurssträngen der Lebenswissenschaften verflochten, die im Rahmen des Projekts "Das Leben schreiben" untersucht werden. Denn in diesem Zeit- und Diskursraum zirkulieren neben Wissenselementen aus Philosophie, Psychologie und Sprachanalyse auch jene aus Physik, Physiologie und Neurologie. Es etabliert sich damit ein Austauschrahmen, der die instrumentellen Anordnungen technischer Infrastrukturen genauso herstellt, wie er von ihnen abhängig ist.

Und so ist es auch im Umkreis der "Autorfunktion" Ferdinand de Saussure die Trias von Physik, Physiologie und Psychologie, in der Zeichenwerte und Wortbilder sich austauschen. Sie diskurrieren dabei - vermittelt über die Funktionsweise des "vokalen Apparats" (appareil vocal) und anderer organischer Instrumente (Gehirn, Ohr, Mund) - nicht nur im Medium der Luft: denn sie springen im "Kreislauf der Rede" (circuit de la parole) hin und her und zirkulieren zwischen zwei Personen A und B im elektroakustischen Wechselspiel von Audition und Phonation. Die Seele des Individuums hat hier buchstäblich die Aufgabe, Zeichen (d.h. Worte und Vorstellungen) zu speichern und zu registrieren. Das abstrakte und ideelle Regelsystem der Sprache bildet dabei eine Organisation, die ihrerseits Produkt der Übereinkunft einer sozialen Körperschaft ist. Die "indifferente Natur des Zeichens" muss in dieser Ökonomie über psychische, physiologische und physikalische Organe mediatisiert werden, um als konkretes und materielles Substrat der Analyse (Laut oder Phon) überhaupt auftauchen zu können. Nicht von ungefähr sehen daher die skizzenhaften Visualisierungen im Cours de linguistique générale (1916) so aus, als ob sie dem Wissen der Physiologie oder der Elektrotechnik entsprungen wären. Diskursive, mediale und materiale Bereiche, die auch von der Psychoanalyse keineswegs verdrängt werden konnten.

Denn dem "epistemischen Individuum" Sigmund Freud lassen sich bereits mit dem Entwurf einer Psychologie (1895) serienweise Aussagen zuordnen, die den seelischen Apparat mit neurologischen Leitungsbahnungen, elektromagnetischen Verhältnissen oder thermodynamischen Prinzipien verbinden. Ein buchstäblicher Schriftzug, der a contrario in Die Traumdeutung (1899/1900) zu der Erkenntnis führt, dass Vorstellungen oder Gedanken nicht in den organischen Elementen des Nervensystems lokalisiert werden dürfen, sondern sich "zwischen" ihnen befinden, wie ein Bild im Fernrohr, wie die Strahlenbrechung des Lichts beim Übergang in ein neues Medium, wie die ideellen Örtlichkeiten im Mikroskop. Inwiefern dies damit in Zusammenhang steht, dass Freud davon Mitteilung erhalten hat, dass die geistigen Schöpfungen von Hermann Helmholtz ihrem Genius "einfallsartig gegeben" wurden, wird zu klären sein. Neben der visuellen Instrumentierung der Psychoanalyse sind es darüber hinaus manifest lesbare Rekurse auf Kinderspielzeuge (Holzspule, Wunderblock), Kommunikationstechniken (Telegraphie, Telephonie) oder Verkehrsverbindungen (Eisenbahn und Schiff-Fahrt), die Lacans späteren Rekurs auf Kybernetik, Radiophonie oder Television epistemisch vorwegnehmen.

Aber auch im "Diskursnetzwerk" Nietzsche finden sich Formen der sympomatologischen Kritik, die philosophische Erkenntnisse auf ihre psychophysiologische Einbindung hin befragen. So codiert das Archiv der physiologischen Literatur - z.B. die Schriften von Xavier Bichat oder Claude Bernard - das Verhältnis zwischen Stärke und Schwäche des (sozialen) Organismus unter den Voraussetzungen einer physikalischen und damit naturgesetzlichen Erhaltung der Lebenskraft. Auch spielt Lamarcks "Vererbung erworbener Merkmale" ihre ökonomische Rolle in der Umwertung aller Werte, sowie verschiedene Anleihen bei der Zoologie lesbar werden, wenn u.a. Affen, tote Frösche oder Spinnen sich in einer Welt bewegen, die nur mehr aus Quantitäten besteht. Es nimmt also kaum wunder, dass nach Nietzsche die Menschheit nichts anderes ist, als eine "ungeheure Experimentir-Werkstätte", in der Vergrößerungsgläser, Dynamometer oder Schreibmaschinen ihre Stellung in Experimental- respektive Aufschreibesystemen beziehen.

Korreliert man nun diese diskursiven Überlappungen im untersuchten Gegenstandsfeld mit der einleitend angedeuteten Frage nach den Transformationen des Historischen, so wird umso deutlicher, wie stark lebenswissenschaftliche und medientechnologische Aussageordnungen an der Destruktion des Historismus beteiligt waren. Die "Wiederkehr der Sprache" in Nietzsches frühen Studien zur Rhetorik, in Freuds Konzeption des Traums als Bilderschrift und in Saussures systematischer Sprachbeschreibung wird durch den allgemeinen Rahmen der Medientechnologien und der Wissenschaften vom Leben um 1900 so sehr intensiviert, dass gezeigt werden kann, wie Geschichtlichkeiten der unterschiedlichsten Disziplinen die untersuchten Diskursflächen durchlaufen, ohne die Form einer alle anderen Phänomene determinierenden Geschichte annehmen zu müssen. Damit kann denn auch von den untersuchten "Autoren" behauptet werden, was Foucault nur Marx attestieren zu müssen glaubte: Dass sie Fische im Wasser des 19. Jahrhunderts sind. Es bleiben Tauchgänge zu absolvieren.