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Projektskizze, Claudia Blümle:

Lebens/Zeichen

Bildtechniken im Feld von Physiologie, Psychiatrie und Kunst (1800-1840)

In Philippe Pinels idealem psychiatrischem Untersuchungsschema gehört (nach Foucault) der erste Moment dem Auge. Folgerichtig strebte die Psychiatrie auch danach, ihre Beobachtungen in bildlicher Darstellung festzuhalten, vorerst in der Nähe Lavaters, Galls und Spurzheims. Vermutlich war Pinels "Nosographie philosophique ou méthode de l’analyse appliquée à la médicine" von 1798 die erste psychiatrische Publikation mit Abbildungen. Sein Schüler Jean Etienne Esquirol belegte die jeweilige Annahme, dass seine Patienten geheilt seien, durch je eine Illustration vor und nach der Behandlung. So wie Jean Alibert für seine "Description des maladies de la peau" (1806) 51 Stiche anfertigen liess, verwendete Esquirol für Lehrzwecke wie für seine Publikationen Bildmaterial: Im "Dictionnaire des sciences médicales" (1816) und in "Des maladies mentales considerées sous les rapports médicals, hygiéniques et médico- légals" (1838) sind Radierungen von Georges- François- Marie Gabriel und von Ambroise Tardieu wiedergegeben.

Charles Bell, der in Frankreich einen guten Ruf besass, weil er ohne Unterbrechung während drei Tagen und drei Nächten die französischen verletzten Soldaten nach der Schlacht von Waterloo gepflegt hatte, und sein vor allem durch spektakuläre Sektionen bekannte Bruder John zeichneten und radierten selbst in den Jahren 1794 - 1816 hunderte von Tafeln, die in ihren eigenen Büchern, wie "Engraving of the Anatomy of the Brain" (1802) oder "Essay on the Anatomy of Expression in Painting" (1806), abgedruckt wurden. Seit Andreas Vesalius hatten anatomische Atlanten die Landschaften des Körperinneren kartographiert. In der von Bell vorgenommenen Verknüpfung von (toter) Anatomie und (lebendigem) Ausdruck kam dem anatomischen Zeichner aber eine ganz neue Aufgabe zu, die zugleich eine Ablösung jener physiognomischen, phrenologischen und ikonographischen Semiotiken bedeutete, die am Ende des 18. Jahrhunderts den Blick von Medizinern und Künstlern gleichermassen geleitetet hatten. An diesem Vorgang lässt sich – so die These des vorliegenden Projekts – eine grundlegende Neukonfiguration des Verhältnisses von Körpern, Bildern und Zeichen ablesen.

Bells an den Lebens/Zeichen der Körper interessierte und zunehmend neurophysiologisch orientierte Anatomie fällt zugleich auf der Seite der Kunst mit einem veränderten Umgang mit der zeichnerischen Studie als schnellem und nah am Leben erscheinenden Bildverfahren zusammen. Diese Aufwertung der Zeichnung im Zuge des nun einsetzenden künstlerischen Interesses am neuen medizinischen Wissen fand zum Beispiel in den Ausstellungsräumen ihren Niederschlag. Als Illustrator von Esquirol zeigte Gabriel 1814 im selben Salon in Paris, in dem Théodore Géricault drei Ölgemälde ausstellte, Zeichnungen unter dem Titel "Dessins extraits d’une collection destinée à un ouvrage sur l’aliénation mentale, par le docteur E...". Die Tatsache, dass Gabriels Zeichnungen ursprünglich einen medizinischen Text Esquirols illustrieren sollten und nun in einem öffentlichen Ort für ‚höhere’ Kunst ausgestellt wurden, markiert eine Durchlässigkeit der Grenzen zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Bildlichkeit. Dieses Zusammentreffen des gebildeten, ikonographischen mit dem wissenschaftlichen Blick führte in den folgenden Jahren zu einem Einwandern der zeichnerischen Studie in Kunstgemälde.

Solche ästhetischen Kontextualisierungen der Wissenschaft spiegeln sich auch im wissenschaftlichen Appell an die Künstler wider: Bereits Lavater riet den Künstlern, die Physiognomien verschiedener Personen zu studieren und dafür bis in die Spitäler, Gefängnisse oder Asyle zu gehen, während gleichzeitig der als Kuriosität ausgestellte Wahnsinnige sonntags in der Anstalt von der Bevölkerung betrachtet werden konnte. 1790 gingen Heinrich Füssli und Francisco Goya in die Irrenanstalten, um Studien anzufertigen, die dann aber in den Gemälden literarisch, mythologisch oder historisch eingekleidet wurden. Horace Vernet fand sein Modell für sein Gemälde "La folle par amour", das 1819 im Salon zu sehen war, interniert in der Salpêtrière und versah es mit politischen und literarischen Konnotationen (Ophelia, Schlacht von Waterloo). Die Infragestellung der ikonographischen Markierung zeigt sich in der vorgesehenen Änderung des Titels und verweist auf neue künstlerische Strategien, die sich in einem neu codierten Bildraum, nämlich in der Nähe der Studie, bewegen: Noch im selben Jahr wurde das Gemälde "La folle par amour" als "Une tête de folle" an den Duc d’ Orléans verkauft und 1822 als "La folle de Bedlam" nochmals ausgestellt.

Vor allem aber im Spätwerk Géricaults manifestiert sich dieses neue Verhältnis von Zeichnung und Gemälde, von "Leben" und Bild, und zwar sowohl in anatomisch-physiologischer als auch in psychiatrischen Ausprägung. Wie kein anderer Maler seiner Zeit fand Géricault Interesse an den Forschungen von Charles Bell, den er während seines Londonaufenthalts auch persönlich kennenlernte. Bells Zeichentechnik hat in das skandalöse "Radeau de Meduse" und die "Têtes de suppliciés" direkt Eingang gefunden. In den fünf Monomanenbildnissen (1819-1824) manifestiert sich zudem ein klinischer Blick, der sich, im Licht einer um 1800 aufkommenden Diskursivität von Norm und Normalität, als Wanderung von Körper zu Körper ebenfalls im Feld konkreter Sinnlichkeit konstituiert. Diese neue Konstellation zwischen Bild und medizinischem Wissen steht zugleich in einer Geschichte der Sammlung, deren Logik sich nicht nur in die Geschichte des Museums einschreibt, sondern auch ein wichtiges Konstituens der neuzeitlichen Wissenschaften bildet. Das Bildmaterial, das Esquirol besass, kann noch als Sammlung gesehen werden, die unendlich erweitert werden konnte. Im Gegensatz dazu bilden die "Monomanenbildnisse" Géricaults eine Serie, die schon die Norm in sich aufgenommen hat.

Die durch die Physiologie in ganz neuer Weise aufgeworfene Frage nach den Zeichen des Lebens im Körper erscheint also unmittelbar verbunden mit der Frage nach einer Möglichkeit ihrer Aufzeichnung. Das Fehlen einer scharfen Grenzziehung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Bildlichkeit, schafft dabei für wenige Jahre die Möglichkeit einer produktiven Interdisziplinarität, die mit der Erfindung der Fotografie (beispielsweise durch die Fotos und Fotoserien Hugh W. Diamonds und Duchennes) beendet werden sollte.