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Projektskizze, Cornelius Borck:

Metamorphosen des Körpers zwischen Instrument und Apparat:
Transformationen der Experimentalpraktiken in Elektro- und Neurophysiologie

Im Zentrum des Forschungsprojekts stehen die multiplen Relationierungen von Körper und Apparat, mit denen sich die Elektro- und Neurophysiologie im langen 19. Jahrhundert als eine experimentelle Lebenswissenschaft etablierte und elektrotechnisch angeleitete Körpermodelle produzierte. Die Interdependenzen zwischen lebendigen Strukturen, Wissenschaft und Technik entfalteten im physiologischen Experimentieren bzw. dessen kultureller Rezeption unvorhersehbare epistemische Effekte, in deren Folge neue biologische Ordnungen und neue technisch vermittelte Interventionsoptionen entstanden.In drei historischen Schnitten entlang der Achsen 1800, Jahrhundertmitte und 1900 untersucht dieses Projekt, wie sich die verändernden Konstellationen von Apparaten, Instrumenten und Organismen in elektrotechnische Körperkonzepte und organologische Technikmodelle eingeschrieben haben.

In den Elektrizitätsversuchen um 1800 fungierte der tierische oder menschliche Organismus in einer noch ungeschiedenen Doppelrolle als Untersuchungsobjekt und Beobachtungsinstrument. Der elektrische Strom war entsprechend ein polyvalentes Funktionsprinzip des Organischen, eng verknüpft mit dessen "Lebendigkeit", und eine im Experimentieren von außen applizierte Kraft. Über mehrere Jahrzehnte blieb das Muskel-Nerv-Präparat des Frosches nicht nur ein weit verbreitetes Forschungsobjekt der Elektrophysiologie, sondern auch das sensibelste Nachweisgerät für elektrische Ströme. Was sich hier bereits als Differenz verschiedener Experimentalpraktiken andeutete, verzweigte sich mit Oersteds Beobachtung der elektromagnetischen Wechselwirkung und der damit einsetzenden Konstruktion elektromagnetischer Instrumente für den Stromnachweis in eine gezielte Charakterisierung bioelektrischer Ströme, eine meßtechnische Kontrolle und Standardisierung der elektrischen Reizung tierischer und menschlicher Körper. An die Stelle einer weitgehend ungeschiedenen Wechselbeziehung von Meßinstrument und Körper trat mit der Konstruktion immer speziellerer Meßinstrumente und elektrischer Apparate eine differentielle Bestimmung des Körpers mittels dieser Apparate. Auch nach ihrer instrumentellen Trennung blieben Körper und Apparat also relational aufeinander bezogen, waren in epistemischer Hinsicht weiterhin untrennbar.

Nicht erst die moderne Mediengeschichte nimmt die Abhängigkeiten zwischen Neurophysiologie und Medientechniken in den Blick. Schon 1875 hat bekanntlich Ernst Kapp in seinen Grundlinien einer Philosophie der Technik eine "durchgängige Parallelisierung von Telegraphensystem und Nervensystem seitens der Wissenschaft" konstatiert. Die Telegraphentechnik des Nervensystems ist längst zum historischen Beispiel neurophysiologischer Wissensordnungen geworden und illustriert damit heute, wenn in Fortsetzung solcher techno-organischer Differentzierungen z.B. über das Gehirn als Computer debattiert wird, vor allem die Historizität technisch informierter lebenswissenschaftlicher Konzepte.

Die Herausforderung an eine medienhistorische Wissenschaftsgeschichte besteht in einer präzisen Rekonstruktion des differentiellen Verweisungszusammenhanges zwischen Körper und Apparat. Zu fragen ist also danach, welche materialen Kulturen welche Verweisungszusammenhänge von Körper und Apparat etabliert und stabilisiert haben, wie Medientechniken im Einzelfall lokalisierter Experimentalsysteme Forschungsstrategien produziert und irritiert haben, welche medientechnischen Entwicklungen umgekehrt von spezifischen Experimentalpraktiken angestoßen wurden und welche konzeptionellen Resonanzen im Umfeld konkreter elektrophysiologischer Forschungen zu beobachten sind.

Drei Fallstudien sind vorgesehen:

  1. Für die Zeit um 1800 sollen vergleichend die Experimentalpraktiken von Wilhelm Ritter und Karl August Weinhold untersucht werden. Das Experimentalsystem Ritter, sein eigener Körper als Medium der Forschung und die Medien, über die Ritter zum diskursiven Ereignis wurde, sollen hier unter der Perspektive der bei Ritter zu beobachtenden Fusionierung von Körper und Instrument im Hinblick auf Körperbild, Maschinenmodell und Lebenskonzept analysiert werden. Im Zentrum des Weinhold-Projekts stehen dessen Versuche zur Konstruktion künstlicher Lebewesen, in denen er Rückenmark und Gehirn verschiedener Versuchstiere gegen elektrische Elemente austauschte. Weinhold implementierte und explorierte in seinen Versuchen die konzeptionellen Überschneidungen zwischen elektrischen Apparaten und organischen Körpern. Die Versuchsstrategien von Weinhold und Ritter lassen sich zu einer Experimentalsituation konstellieren, in der die Experimentalisierung des Lebens bereits vor der Institutionalisierung der experimentellen Physiologie elektrotechnische Körperkonzepte konstituierte.
  2. Die Jahrzehnte der Jahrhundertmitte sind schon oft als Erfolgsgeschichte der experimentellen Physiologie rekonstruiert worden. Weniger Aufmerksamkeit wurde dagegen darauf gerichtet, welche Wirksamkeit diese Experimentalpraktiken im Hinblick auf die Konstituierung neuer Körpermodelle hatten und wie sich der instrumentelle Zugriff auf den Körper in dessen Konzeptionalisierung einschrieb. Ein vielversprechendes Untersuchungsfeld ist hierbei die Entwicklung der Elektrotherapie, aus der heraus sich eine neue Klinik des Nervensystems verselbständigte. Dieses Feld soll an drei Figuren bzw. Orten untersucht werden, Robert Remak und das Physiologische Labor in Berlin, Wilhelm Erb und die Heidelberger Klinik bzw. Moritz Benedikt und das Physiologische Institut in Wien. Anhand dieser drei Orte kann exemplarisch untersucht werden, wie die instrumentellen Anordnungen der physiologischen Labore zu Maschinen einer elektrotechnischen Formierung menschlicher Körper wurden. Die elektromedizinische Praxis war zudem der soziale Ort, an dem sich Elektrophysiologie, Elektrizitätsphantasien und "Nervenkulturen", z.B. in Debatten über eine vermeintliche Schwächung oder Steigerung des Nervenlebens durch die neuen Medien und die Elektrifizierung verschränkten.
  3. Für das ausgehende 19. Jahrhundert soll schließlich untersucht werden, wie radikal unterschiedlich der psychische Apparat im Zusammenspiel von Elektrophysiologie und Psychologie modelliert werden konnte. Diese Fallstudie setzt einerseits die Untersuchung des Physiologischen Instituts in Wien fort, in dem bekanntlich Sigmund Exner und Sigmund Freud ihre schalttechnischen Entwürfe des psychischen Apparats konzipierten. Eine medienhistorische Rekonstruktion der Experimentalpraktiken in diesem Labor, vor allem aber auch eine Erschließung der materialen Kultur im lokalen Wiener Kontext sollen zeigen, welche medientechnischen Voraussetzungen die Entwürfe von Freud und Exner anleiteten, in welchem Verhältnis sie zu ihren experimentellen Arbeiten standen und inwiefern Freuds eigene elektrotherapeutische Praxis den Weg zur Psychoanalyse bahnte. Als extremen Gegenpol zu Exners und Freuds "Entwürfen" psychologischer Theorien auf der Basis elektrophysiologischer Experimentalsysteme soll die Fallstudie andererseits Julius Bernsteins Arbeiten zu einer thermodynamischen Theorie der Nerventätigkeit rekonstruieren. Bernstein zielte auf eine mathematisch-statistische Beschreibung bioelektrischer Ströme auf der Ebene von Atom- und Molekülbewegungen. Die Stärke einer medienhistorisch angeleiteten Wissenschaftsgeschichte müßte sich gerade in einer Fallstudie beweisen, die solche Verzweigungen in den Blick nimmt.

"Das Leben schreiben" meinte um 1800 vor allem eine konventionelle Produktion von Texten und von speziellen Printmedien zur Zirkulation lebenswissenschaftlicher Texte. Noch 1842 eröffnete Hermann Lotze das "Handwörterbuch der Physiologie" mit einem aus der Seitennumerierung herausgenommenen Vorspann zum Stichwort "Leben, Lebenskraft", womit das Besondere dieser Kategorie gleichermaßen hervorgehoben und ausgegrenzt war. Bis zur Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert schob sich eine unüberschaubare Experimentalpraxis unter diese Schreibpraxis. Hier liegt der prekäre Knotenpunkt einer Verschränkungsgeschichte von Körper und Apparat im Prozeß einer Technisierung des Lebens und Biologisierung der Maschine. "Messfühler" und "Schreibarme" waren einerseits konkrete Produkte instrumenteller Forschung und andererseits diskursive Strategien zur Legitimierung der Instrumente als Schriftproduzenten und Sprechern für organische Körper. Dieser Prozeß einer Supplementierung, Unterwanderung, und Transformation der Schreibweisen des Lebens, die "Verschriftlichung" des Lebens in der écriture automatique der physiologischen Apparate verweist auf medienhistorische Umbrüche in der Geschichte der Lebenswissenschaften, für die eine Reproduktion der Differenz zwischen den Einschreibungen und ihrer Referenz charakteristisch war.