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Projektskizze, Armin Schäfer:

... und das Wort ist Fleisch geworden. Untersuchungen zur Biologie des „Geistes“ im 19. Jahrhundert

Das Projekt ... und das Wort ist Fleisch geworden. Untersuchungen zur Biologie des "Geistes" im 19. Jahrhundert fragt nach Entstehung, Konzeption und sozialer Akzeptanz eines biotechnologischen Zusammenhangs, der darin bestand, daß durch kalkulierte Reizung des Menschen nicht nur sein Leben als Einzelwesen, sondern auch das Leben der Gattung durchformt, kontrolliert und verbessert werden sollte. Als Leitfaden dienen zwei Fragen, die im 19. Jahrhundert die Wissenschaften vom Leben angetrieben haben: Wie werden Eigenschaften von Organismen erworben? Wie können erworbene Eigenschaften vererbt werden? Anhand dieser Fragen lassen sich die beiden wichtigsten Felder der Lebenswissenschaft, die Physiologie und die unterschiedlichen Theorien der Entwicklung des Lebens, aufeinander beziehen.

Physiologie und Evolutionstheorien waren im 19. Jahrhundert durch einen immensen Abstand voneinander getrennt. Die Physiologie hatte zunächst zurückhaltend, wenn nicht gar skeptisch die neuen Evolutionstheorien rezipiert. Diese maßen die Zeit des Lebens in Generationen und Jahrtausenden, die Physiologie dagegen in der kurzen Spanne von Reiz und Reaktion. Die Physiologie formulierte einen neuen funktionalen Organbegriff, die Evolutionstheorie hing noch lange einem älteren, morphologisch ausgerichteten Organbegriff an. Physiologen entwickelten die Laborarbeit mit Individuen, und es ging ihnen, wie Georges Canguilhem schreibt, "mehr um die Bestimmung funktionaler Konstanten als um die statistische Verteilung von Schwankungen. Populationsgrößen und die wahrscheinlichkeitstheoretische Behandlung von Daten hatten in ihrem methodologischen Rahmen keinen Platz".

Die Evolutionstheorie wiederum blieb ohne einen vollen Begriff der Vererbung ein Theoriegefüge, in dem die Lehre von der Transformation durchaus mit pangenetischen Vorstellungen, denen ja auch Darwin anhing, vereinbar war. Daß es Artenwandel gibt, war schon vor Darwin unbestritten, aber der eigentliche Mechanismus des Wandels war ungeklärt. Darwin hatte dann gezeigt, daß sich Lebewesen nicht direkt an ihre Umwelt anpassen. Vielmehr gibt es zufällige Veränderungen einiger Lebewesen, die es ihnen erlauben, besser in einer Umwelt zu überleben als ihre Artgenossen. Also nicht das einzelne Lebewesen ist Gegenstand des Transformationsprozesses, sondern die Gesamtheit der Lebewesen einer Art. Allerdings ist auch die Umwelt nicht als ein stabiles Milieu gegeben, sondern selbst veränderlich. Die Anpassung der Organismen geschieht nicht stetig an eine konstante Umwelt, sondern sie ist ein Prozeß, der sich nicht vorhersagen läßt und sich immer nur im Rückblick als sinnvoll erkennen lassen wird.

Im 19. Jahrhundert gelang es nicht, eine Brücke zwischen Physiologie und Evolutionstheorien zu schlagen. Der Vorgang der Vererbung blieb ungeklärt und strittig war insbesondere, ob auch erworbene Eigenschaften vererbt werden können. Viele Forscher zweifelten die Erblichkeit erworbener Eigenschaften aus guten Gründen an, aber erst im 20. Jahrhundert wurde diese Auffassung zu einem unwissenschaftlichen Phantasma erklärt. Die Forschung zur Vererbung erworbener Eigenschaften im 19. Jahrhundert bemühte sich durchaus um Beobachtungsnähe, Kontrolle an der Natur und empirische Bestätigungen. Reflexion auf das eigene Vorgehen, Ergebnisvergleich und Theoriegeleitetheit waren ihr nicht abzusprechen. Die Modellbildung war an den seinerzeit neuesten Medien orientiert. Die Experimente wurden mit modernsten Aufzeichnungsapparaten protokolliert. Zugleich wurde im Diskurs über die Vererbung erworbener Eigenschaften auf suggestive Weise eine Medienmetaphorik des biologischen Gedächtnisses, ein technomorphes Organismuskonzept und ein vieldeutiger Begriff vom Geist des Menschen zusammengeschlossen. Dieser Diskurs bescheinigte dem, was unter der Sammelbezeichnung "Geist" gefaßt wurde, eine kalkulierbare biologische Wirkmacht. Er gab das Versprechen, daß eine kontrollierbare und geplante Verbesserung des Menschen als Einzel- und Gattungswesen machbar sei, er stellte seine konkrete Anwendung im Alltag in Aussicht und nährte nicht zuletzt die Vision einer gelingenden politischen Steuerung des Lebens. Damit wurde diskursiv ein biotechnologischer Zusammenhang erzeugt, der ungeklärte Fragen zum Verschwinden brachte, kritische Einwände überspielte und praktische Anwendungen anregte.
"Die Vererbung", hatte Claude Bernard zwar 1879 erklärt, "stellt ein außerhalb unserer Möglichkeiten liegendes Element dar, das wir nicht wie Lebenseigenschaften meistern können." Gleichwohl gewannen, vor allem seit den 1870er Jahren, die Forschungen der Physiologie, vor allem die Nervenphysiologie und die Experimente zur Reizbarkeit von Organismen für eine Erklärung des Artenwandels und der Steuerung der Anpassung an Bedeutung. 1882/83 wies August Weismann nach, daß das Erbmaterial im Keimplasma angelegt und dieses Träger der später in der Entwicklung des Organismus zur Ausprägung kommenden Merkmale ist. Obwohl seine Forschungen die These von der Vererbung erworbener Eigenschaften schwer erschütterten, kam deswegen der Diskurs über die Vererbung erworbener Eigenschaften noch lange nicht zum Erlöschen, und der vielleicht entscheidende Grund, warum der Diskurs über die Vererbung erworbener Eigenschaften gegen sachliche Einwände bestehen konnte, liegt in den Allianzen, die er mit einer politischen Anatomie des Körpers und neuen Medien einging.

Die Wirkmacht des Diskurses über die Vererbung erworbener Eigenschaften erstreckte sich weit über die Fachgrenzen der Biologie hinaus. Seit seinen Anfängen ist dieser Diskurs auf Transfer hin angelegt und tief in Kulturtheorien und Literatur verankert. Es waren vor allem Literaten und Geisteswissenschaftler, die in der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften endlich neue Wirkmöglichkeiten und vor allem: eine neue Legitimation für Geist und Wort sahen und es begrüßten, daß "der Geist ein dynamisches und gestaltendes Element im entwicklungsgeschichtlichen Werden" sein könnte. Und seit seinen Anfängen ist dieser Diskurs über die Vererbung erworbener Eigenschaften auf Anwendung hin angelegt. Seine Geschichte wird deshalb zumeist auch als Kapitel einer Geschichte der Eugenik geschrieben. In dieser Historiographie gehört die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften zu einem unwissenschaftlichen Traditionsbestand, sie sei eine uralte Irrlehre, der die Leute aus einem Mangel an Aufklärung immer wieder aufs Neue verfallen. Aus einer diskursanalytischen Perspektive läßt sich hingegen für den Diskurs über die Vererbung erworbener Eigenschaften und die Eugenik ein historisches Apriori im jeweiligen Stand der Biotechnologie angeben.