Die Psyche unterscheidet den Menschen von Maschinen, Pflanzen und niederen Tieren so lautet nach wie vor die herrschende Meinung in den Naturwissenschaften, in Philosophie und Theologie. Obwohl die Psyche tief in der Physiologie des Menschen verankert ist, gilt sie zugleich als das Zentrum des bewußten und individuellen Lebens. Zum ausgezeichneten Mittel der Verständigung über die Psyche und zu ihrer Erforschung wurde die Sprache, die sogar noch diejenigen Dimension der Psyche zugänglich machen soll, die sich der Introspektion und direkten Beobachtung entziehen. Die Modelle wiederum, mit denen die Psyche zur Darstellung gelangte und gemäß denen ihre Funktionsweise begriffen wurde, waren deshalb oft dem Bereich der Schrift und der Schreibtechniken entlehnt. Zugleich bedienten sich diese Modelle vielfach technischer Medien, die charakteristischer Weise jenseits des Sprachlichen operieren: So wurde die Psyche vorgestellt als Wachstafel, Wunderblock und Datenbank, als Photographie, Grammophonplatte und Film, als Schaltzentrale, Rechenmaschine und Computer. Wenn die Psyche das Produkt der Diskurse über sie ist und diese Diskurse maßgeblich vom Medium der Schrift bzw. den medialen Modellen des Psychischen bestimmt werden, sind damit eine Reihe von epistemologischen, wissenschaftshistorischen und medientheoretischen Fragen aufgeworfen, denen der Workshop "Psyche der Schrift Medialität des Menschen" nachgehen will.
Mit dem Workshop schlagen wir vor, die kultur- und mentalitätsgeschichtliche
Erforschung der Psyche aus medienhistorischer Perspektive zuzuspitzen. Von den
Kontroversen des 18. Jahrhunderts, ob das Lesen eine Gefahr für die Psyche
sei, über die Diskussion der sprachlichen Verfaßtheit des Psychischen
bis zur aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung hat die Schrift die Diskurse
über die Psyche geprägt. Welche psychischen Phänomene korrelieren
also mit bestimmten Schriftformen und Schreibverfahren? Welche Entwürfe
des Psychischen sind mit spezifischen Schreib- und Lesetechniken verzahnt? Wie
generieren, strukturieren oder begrenzen Sprache und Schrift den Möglichkeitsraum
des Psychischen?
Unser Interesse richtet sich dabei vor allem auf die epistemischen Effekte der
medial angeleiteten Verständigung über die Psyche. Dabei wollen wir
fragen, inwiefern bestimmte Wissenstechniken die Phänomene des Psychischen
konstituiert haben und weiterhin generieren, denen im Diskurs der Psychologie
vielfach ein ontologischer Status zuerkannt wird. Inwiefern ist die menschliche
Psyche das Produkt einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit eben diesem
Phänomenbereich? Welche ontologisierenden Effekte haben wissenschaftliche
Praktiken und wie werden sie wirksam?
Solche medienwissenschaftlichen und epistemologischen Reflexionen treiben zur
Frage nach der Historizität der Psyche. Wenn die Psyche einerseits als
Zentrum des bewußten menschlichen Lebens gilt und andererseits ebenso
Spiegel wie Produkt der technischen Medien ist, wie läßt sich dann
die "Natur" der Psyche zur Geschichte dieses wissenschaftlichen Objekts
ins Verhältnis setzen? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang die gegenwärtige
Überführung der Psyche in Kognitionswissenschaft und Psychophysiologie?